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Elementare Voraussetzungen, 
ein eigenes Leben zu führen

Texte von Ulrich Beck

Elementare Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen
Das alltägliche Ringen um das eigene Leben 
ist zur Kollektiverfahrung in der westlichen Welt geworden. In ihm drückt sich die Restgemeinschaft aller aus.

Der Zwang und die Möglichkeit, ein 
EIGENES LEBEN zu führen, entstehen in der hochdifferenzierten Gesellschaft. 
In dem Maße, in dem die Gesellschaft in einzelne Funktionsbereiche zerfällt, die weder aufeinander abbildbar noch durcheinander ersetzbar sind, werden die Menschen jeweils nur unter Teilaspekten eingebunden: als Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Wähler, Patientin, Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fußgängerin usw., d. h. sie werden 
im andauernden Wechsel zwischen verschiedenartigen, zum Teil unvereinbaren Verhaltenslogiken gezwungen, sich auf die eigenen Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die Hand zu nehmen: das eigene Leben. Die moderne Gesellschaft integriert die Menschen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, daß Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teilweise und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten an diesen teilnehmen. 
Wer fragt, wie die Entstehung des 
EIGENEN LEBENS
zugleich materialisiert und symbolisiert, veranschaulicht werden kann, wird daher kaum ein farbigeres, aussagekräftigeres Beispiel finden als die "Wohnraum-Revolution", die sich seit der Mitte der fünfziger Jahre, wenigstens in Westeuropa, ereignet hat. 
Es scheint nicht Übertrieben, von einer architektonischen Demokratisierung zu sprechen. Die Kinderzahlen schrumpften und schrumpfen, die Anzahl der Personen pro Haushalt wurde geringer. Im selben Zeitraum und Ausmaß, nur gegenproportional, vergrößerten sich die Wohnungen: Vom engsten Raum, in dem alles geschah 
- jenem Schlafwohneßarbeitsspielzimmer  -, 
zu einer funktionalen Aufteilung und schließlich sogar zu einer räumlichen Individualisierung: 
dem selbstverständlichen Anrecht jeder Person 
auf ihren eigenen Raum bzw. ihre eigenen Räume. Den (vorläufigen?) Gipfel dieser Entwicklung 
- weniger Kinder, mehr Raum - bezeichnen 
die "Einpersonenhaushalte".

In westdeutschen Großstädten haben die Einpersonenhaushalte inzwischen bei allen Wahlgängen des Wohnens die absolute Mehrheit, ihr Anteil liegt bei Über 50 Prozent (mit steigender Tendenz).

Das EIGENE LEBEN ist gar kein eigenes Leben! Jedenfalls nicht in dem Sinne eines freischwebenden, selbstbestimmten, allein 
dem Ich und seinen Vorlieben verpflichteten Lebens. Die Menschen müssen ein eigenes Leben führen unter Bedingungen, die sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen. Das eigene Leben hängt z. B. ab von Kindergartenöffnungszeiten, Verkehrsanbindungen, Stauzeiten, örtlichen Einkaufsmöglichkeiten usw., von den Vorgaben der großen Institutionen: Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Sozialstaat; von den Krisen 
der Wirtschaft, der Zerstörung der Natur einmal ganz abgesehen. Manchmal muss nur die Oma, 
die die Kinder hütet, ausfallen, und die windigen Konstruktionen des eigenen Lebens brechen 
in sich zusammen.

Das EIGENE LEBEN ist also das durch und durch Institutionen abhängige Leben. An die Stelle bindender Traditionen treten die Vorgaben, ein eigenes Leben zu organisieren.

Gerade im Bürokratie- und Institutionendickicht 
der Moderne ist das Leben in Netzwerke von Vorgaben und (bürokratischen) Regeln fest eingebunden. 
Das Entscheidende ist vielmehr, dass die modernen Vorgaben die 
Selbstorganisation des Lebenslaufes und 
die Selbsthematisierung der Biographie geradezu erzwingen.

EIGENES LEBEN heißt: Enttraditionalisierung, Freisetzung aus vorgegebenen Sicherheiten und Versorgungsbezügen. Das eigene Leben wird prinzipiell zu einem riskanten Leben. 
Die Normalbiographie wird zur (scheinbaren) Wahlbiographie, zur Risikobiographie in dem Sinne, dass (fast) alles entscheidungsabhängig wird.

Falsch (im Sinne der Theorie) sind daher 
die Gegenmetaphern, die das (eigene) Leben 
als "Zementblock", "Fels", "Fluss", "Kreislauf", "Rennen gegen Windmühlenflügel" vorstellen. 
Denn ohne Aktivität im und am Schicksal ist 
die Rede vom "eigenen Leben" schlechterdings nicht sinnvoll.

EIGENES LEBEN - eigenes Scheitern. 
Die Konsequenz ist, dass auch gesellschaftliche Krisen - z. B. Massenarbeitslosigkeit - in Form individueller Risiken auf die einzelnen abgewälzt werden können. Gesellschaftliche Probleme können unmittelbar umschlagen in psychische Dispositionen: in persönliche Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht - paradox genug - eine neue Unmittelbarkeit 
von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden. 
Hier liegt auch eine Quelle für die gegenwärtigen Ausbrüche von Gewalt um der Gewalt willen, die sich gegen wechselnde Opfer ("Fremde", Behinderte, Homosexuelle, Juden) entlädt.

Arbeitslosigkeit und Armut treffen unter 
den Bedingungen des eigenen Lebens immer weniger dauerhaft eine Gruppe, sondern werden lebensspezifisch querverteilt. Schematisch gesprochen: Die Gegensätze sozialer Ungleichheit tauchen als Gegensätze zwischen Lebensabschnitten innerhalb einer Biographie auf. Lebensverläufe werden
bunter, brüchiger, heteronomer, vielschichtiger. 
Das heißt nun auch: Ein wachsender Teil der Gesamtbevölkerung ist mindestens vorübergehend Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt.

Geschwister
Drei Geschwister, die schon 
über 20 Jahre auf dem 
Dulsberg wohnen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Familie, erst vor wenigen Jahren nach Dulsberg gezogen
Eine Familie, die erst vor 
wenigen Jahren auf den 
Dulsberg gezogen ist, einen Blumenladen eröffnet hat, 
sich aktiv für die Belange 
des Stadtteils einsetzt und 
gerne dort lebt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Innenhöfe und Grünflächen
Immer wieder
eingestreut Innenhöfe
und Grünflächen

     
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